Aufgabenstellung

Seit es zu geplanten Freisetzungen von GV-Organismen kommt, hat es immer wieder Diskussionen darüber gegeben, inwieweit eine Kontrolle der Ausbreitung von GVOs in der Umwelt möglich ist. Beispielsweise hat gentechnisch veränderter Raps aufgrund seiner Artmerkmale nicht nur die Möglichkeit, in der Umwelt zu persistieren, sondern auch durch Auskreuzung gentechnisch veränderte Merkmale in verwandte Wildpflanzen zu übertragen. Eine solche Ausbreitung in der Umwelt ist aber in der Regel nicht erwünscht. Vielmehr sollen laut EU-Richtlinie 2001/18 gentechnisch veränderte Organismen möglichst gemäß ihrer Bestimmung auf das Labor, auf das Areal einer experimentellen Freisetzung oder bestimmte landwirtschaftliche Produktionssysteme beschränkt bleiben.

In jüngster Zeit wurden die Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnik in der Landwirtschaft erweitert: Insbesondere in Zusammenhang mit der Entwicklung gentechnisch veränderter Insekten wurden neue Konzepte für Anwendungen von selbstverbreitenden künstlichen genetischen Elementen entwickelt, die deren Ausbreitung in natürlichen Populationen zum Ziel haben (SPAGE). Ein Beispiel sind GV-Olivenfliegen, die freigesetzt werden sollen, um die natürlichen Populationen der Olivenfliegen (einer Schadinsektenart) zu dezimieren. Dazu wurden genetische Veränderungen in männlichen Fliegen etabliert, die dazu führen, dass die weiblichen Nachkommen als Larven zugrunde gehen, während die männlichen GV-Tiere überleben und ihr Erbgut weiter in den natürlichen Populationen verbreiten.

In Zukunft sollen bei GV-Pflanzen und GV-Tieren zudem auch sogenannte Gene Drives zum Einsatz kommen. Diese können die Häufigkeit der Vererbung der genetischen Veranlagung eines Elternteils über die normale Wahrscheinlichkeit der Weitergabe an 50 % der Nachkommen hinaus erhöhen, indem die genetische Veränderung bei der geschlechtlichen Vermehrung zusätzlich auf das vom anderen Elternteil kommende Chromosom durch Aktivierung eines Reparaturmechanismus übertragen wird.

Gene Drives besitzen damit das Potenzial, natürliche Populationen rasch und vollständig in ihren Eigenschaften zu verändern. Wenn der Gene Drive uneingeschränkt wirkt, tragen in jeder Generation die Nachkommen der GV-Organismen die gewollten Veränderungen reinerbig in ihrem Erbgut. Damit ist innerhalb der SPAGE-Technologien eine neue Qualität erreicht. Gene Drives sorgen nicht nur für eine sehr effiziente Verbreitung von  Veränderungen des Erbguts, sondern auch für die Weitergabe des Mechanismus der gentechnischen Veränderung von Generation zu Generation, auch wenn die mit dem Gene Drive verbundene Eigenschaft nachteilig für die Population ist. Dadurch kann die Ausbreitung einer künstlichen Erbgutveränderung exponentiell beschleunigt werden. Eine besonders hohe Wirksamkeit im Verhältnis zum technologischen Aufwand zeigten Gene Drives unter Verwendung von sogenannten DNA-Scheren auf der Basis von CRISPR-Cas, einem Werkzeug der Molekularbiologie, das seit einigen Jahren sehr erfolgreich im Bereich des Genome Editing eingesetzt wird.

Der Mechanismus eines Gene Drives auf der Basis von CRISPR-Cas

Der Mechanismus eines Gene Drives auf der Basis von CRISPR-Cas

Im Projekt GeneTip soll die Wirkung von „self-propagating artificial genetic elements“ (SPAGE) am Beispiel von Gene Drives und im Speziellen bei GV-Raps sowie GV-Olivenfliegen als Trägern von SPAGE im Rahmen einer Technikcharakterisierung sowie einer Gefährdungs- und Vulnerabilitätsanalyse untersucht werden. Aufgrund der mit SPAGE verbundenen absichtlichen, gezielten und besonders wirkmächtigen Ausbreitung artifizieller Genveränderungen wird eine neue Stufe der Eingriffstiefe in natürliche Systeme eröffnet. In den Untersuchungen geht es insbesondere um die Identifizierung sogenannter Kipp-Punkte, also von Phasenübergängen, bei denen ein System in einen anderen Zustand übergeht. So könnten durch die rasche Veränderung bis hin zur Eliminierung ganzer Populationen irreversible Kippvorgänge in der Dynamik von komplexen sozial-ökologischen Systemen ausgelöst werden.

Zu den relevanten Systemen im Untersuchungsrahmen von GeneTip zählen

  • natürliche Populationen von Pflanzen und Tieren und damit verbundene Ökosysteme, sowie
  • sozial-ökologische Systeme, innerhalb derer Landwirtschaft betrieben wird.

Die Untersuchung von möglichen Kipp-Punkten ist ein hochinteressantes Feld in der Gefährdungs- und Vulnerabilitätsanalyse. Für die Umsetzung des Vorsorgeprinzips sind die erwartbar weitreichenden Folgen von Kipp-Vorgängen eine besonders große Herausforderung. Angesichts erheblicher Unsicherheiten und enormem Nicht-Wissen über mögliche Folgen von Eingriffen in komplexe dynamische Systeme kommt es darauf an, belastbare Indizien für Gefährdungspotenziale und Verletzlichkeiten (Kipp-Punkte) in den betroffenen Systemen zu erarbeiten. Das Projekt konzentriert sich auch auf die Weiterentwicklung von Methoden zur Identifikation derartiger Gefährdungspotenziale und Verletzlichkeiten.